StruwwelPeter-000.1. |
Flip
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ERSTE SCHWEIZER-AUSGABE
Der Struwwelpter Neu bearbeitet nach Vorlagen von
DR. H. HOFFMANN HERAUSGEBER J. K. SCHIELE GLOBI-VERLAG ZÜRICH
Sieh einmal, hier steht er,
pfui, der Struwwelpeter!
An den Händen beiden
ließ er sich nicht schneiden
seine Nägel fast ein Jahr;
kämmen ließ er nicht sein Haar.
Pfui, ruft da ein jeder:
Garst'ger Struwwelpeter!
Die Geschichte vom bösen Friedrich
Der Friederich, der Friederich,
das war ein arger Wüterich!
Er fing die Fliegen in dem Haus
und riß ihnen die Flügel aus.
Er schlug die Stühl und Vögel tot,
die Katzen litten große Not.
Und höre nur, wie bös er war:
Er peitschte seine Gretchen gar!
Am Brunnen stand ein großer Hund,
trank Wasser dort mit seinem Mund.
Da mit der Peitsch' herzu sich schlich
der bitterböse Friederich;
und schlug den Hund, der heulte sehr,
und trat und schlug ihn immer mehr.
Da biß der Hund ihn in das Bein,
recht tief bis in das Blut hinein.
Der bitterböse Friederich,
der schrie und weinte bitterlich.
Jedoch nach Hause lief der Hund
und trug die Peitsche in dem Mund.
Ins Bett muß Friedrich nun hinein,
litt vielen Schmerz an seinem Bein;
und der Herr Doktor steht dabei
und gibt ihm bittre Arzenei.
Der Hund an Friedrichs Tischchen saß,
wo er den großen Kuchen aß;
aß auch die gute Leberwurst
und trank den Wein für seinen Durst.
Die Peitsche hat er mitgebracht
und nimmt sie sorglich sehr in acht.
Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug
Paulinchen war allein zu Haus,
die Eltern waren beide aus.
Als sie nun durch das Zimmer sprang
mit leichtem Mut und Sing und Sang,
da sah sie plötzlich vor sich stehn
ein Feuerzeug, nett anzusehn.
"Ei," sprach sie, "ei, wie schön und fein!
Das muß ein trefflich Spielzeug sein.
Ich zünde mir ein Hölzchen an,
wie's oft die Mutter hat getan."
Und Minz und Maunz, die Katzen,
erheben ihre Tatzen.
Sie drohen mit den Pfoten: ~ -'
"Der Vater hat's verboten!
Miau! Mio! Miau! Mio!
laß stehn! sonst brennst du lichterloh!"
Paulinchen hört die Katzen nicht!
Das Hölzchen brennt gar hell und licht,
das flackert lustig, knistert laut,
grad wie ihr's auf dem Bilde schaut.
Paulinchen aber freut sich sehr
und sprang im Zimmer hin und her.
Doch Minz und Maunz, die Katzen,
erheben ihre Tatzen.
Sie drohen mit den Pfoten:
"Die Mutter hat's verboten!
Miau! Mio! Miau! Mio!
wirf's weg! sonst brennst du lichterloh!"
Doch weh! die Flamme
faßt das Kleid,
die Schürze brennt, es leuchtet weit.
Es brennt die Hand, es brennt das Haar,
es brennt das ganze Kind sogar.
Und Minz und Mainz, die schreien
gar jämmerlich zu zweien:
"Herbei! Herbei! Wer hilft geschwind?
In Feuer steht das ganze Kind!
Miau! Mio! Miau! Mio!
zu Hilf! das Kind brennt lichterloh!"
Verbrannt ist alles ganz und gar,
das arme Kind mit Haut und Haar;
ein Häuflein Asche bleibt allein
und beide Schuh, so hübsch und fein.
Und Minz und Maunz, die kleinen,
die sitzen da und weinen:
,,Miau! Mio! Miau! Mio!
wo sind die armen Eltern? wo?"
Und ihre Tränen fließen
wie's Bächlein auf den Wiesen.
Die Geschichte von den schwarzen Buben
E5 ging spazieren vor dem Tor
ein kohlpechrabenschwarzer Mohr.
Die Sonne schien ihm aufs Gehirn,
da nahm er seinen Sonnenschirm.
Da kam der Ludwig hergerannt
und trug sein Fähnchen in der Hand.
Der Kaspar kam mit schnellem Schritt
und brachte seine Brezel mit.
Und auch der Wilhelm war nicht steif
und brachte seinen runden Reif.
Die schrieen und lachten alle drei,
als dort das Mohrchen ging vorbei,
weil es so schwarz wie Tinte sei!
Da kam der große Nikolas
mit seinem großen Tintenfaß.
Der sprach: "Ihr Kinder, hört mir zu
und laßt den Mohren hübsch in Ruht
Was kann denn dieser Mohr dafür,
daß er so weiß nicht ist wie ihr?"
Die Buben aber folgten nicht
und lachten ihm ins Angesicht
und lachten ärger als zuvor
über den armen, schwarzen Mohr.
Der Niklas wurde bös und wild,
du siehst es hier auf diesem Bild!
Er packte gleich die Buben fest,
beim Arm, beim Kopf, bei Rock und West
den Wilhelm und den Ludewig,
den Kaspar auch, der wehrte sich.
Er tunkt sie in die Tinte tief,
wie auch der Kaspar "Feuer" rief.
Bis übern Kopf ins Tintenfaß
tunkt sie der große Nikolas.
Die Geschichte vom wilden Jäger
Es zog der wilde Jägersmann
sein grasgrün neues Röcklein an;
nahm Ranzen, Pulverhorn und Flint'
und lief hinaus ins Feld geschwind.
Er trug die Brille auf der Nas'
und wollte schießen tot den lias'.
Das Häschen sitzt im Blätterhaus
und lacht den blinden Jäger aus.
Jetzt schien die Sonne gar zu sehr,
da ward ihm sein Gewehr zu schwer.
Er legte sich ins grüne Gras;
das alles sah der kleine Has'.
Und als der Jäger schnarcht und schlief,
der lias' ganz heimlich zu ihm lief
und nahm die Flint und auch die Brill
und schlich davon ganz leis und still.
Die Brille hat das Häschen jetzt
sich selbst auf seine Nas' gesetzt;
und schießen will's aus dem Gewehr.
Der Jäger aber fürcht sich sehr.
Er läuft davon und springt und schreit:
"Zu Hilf, ihr Leut, zu Hilf, ihr Leut!"
Da kommt der wilde Jägersmann
zuletzt beim tiefen Brünnchen an.
Er springt hinein. Die Not war groß;
es schießt der Ha? die Flinte los.
Des Jägers Frau am Fenster saß
und trank aus ihrer Kaffeetass'.
Die schoß das Häschen ganz entzwei;
da rief die Frau: "0 weil O wei
Doch bei dem Brünnchen heimlich saß
des Häschens Kind, der kleine lias'.
Der hockte da im grünen Gras;
dem floß der Kaffee auf die Nas'.
Er schrie: "Wer hat mich da verbrannt?"
und hielt den Löffel in der Hand.
Die Geschichte vom Daumen-Lutscher
"Konrad,"sprach die Frau Mama,
"ich geh' aus, und du bleibst da.
Sei hübsch ordentlich und fromm,
bis nach Haus ich wieder komm'.
Und vor allem, Konrad, hör'!
lutsche nicht am Daumen mehr;
denn der Schneider mit der Scher'
kommt sonst ganz geschwind daher,
und die Daumen schneidet er
ab, als ob Papier es wär."
Fort geht nun die Mutter und
wupp! den Daumen in den Mund.
Bauz! da geht die Türe auf,
und herein in schnellem Lauf
springt der Schneider in die Stub
zu dem Daumen-Lutscher-Bub.
Weh! jetzt geht es klipp und klapp
mit der Scher die Daumen ab,
mit der großen, scharfen Schert
Hei! da schreit der Konrad sehr.
Als die Mutter kommt nach Haus,
sieht der Konrad traurig aus.
Ohne Daumen steht er dort,
die sind alle beide fort.
Die Geschichte vom Suppen-Kaspar
Der Kaspar, der war kerngesund,
ein dicker Bub und kugelrund.
Er hatte Backen rot und frisch;
die Suppe aß er hübsch bei Tisch.
Doch einmal fing er an zu schrein:
"Ich esse keine Suppe! nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe eß ich nicht!"
Am nächsten Tag - ja sieh nur her!
da war er schon viel magerer.
Da fing er wieder an zu schrein:
"Ich esse keine Suppe! nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe eß ich nicht!"
Am dritten Tag, o weh und ach!
wie ist der Kaspar dünn und schwach!
Doch als die Suppe kam herein,
gleich fing er wieder an zu schrein:
"Ich esse keine Suppe! nein!
Ich esse meine Suppe nicht!
Nein, meine Suppe eß ich nicht!"
Am vierten Tage endlich gar
der Kaspar wie ein Fädchen war.
Er wog vielleicht ein halbes Lot -
und war am fünften Tage tot.
Die Geschichte von dem Zappel-Philipp
"Ob der Philipp heute still
wohl bei Tische sitzen will?"
Also sprach in ernstem Ton
der Papa zu seinem Sohn,
und die Mutter blickte stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt
und schaukelt,
er trappelt
und zappelt
auf dem Stuhle hin und her.
"Philipp, das mißfällt mir sehr!"
Seht, ihr lieben Kinder, seht,
wie's dem Philipp weiter geht!
Oben steht es auf dem Bild.
Seht! er schaukelt gar zu wild,
bis der Stuhl nach hinten fällt.
Da ist nichts mehr, was ihn hält.
Nach dem Tischtuch greift er, schreit.
Doch was hilft's? Zu gleicher Zeit
fallen Teller, Hasch' und Brot.
Vater ist in großer Not,
und die Mutter blicket stumm
auf dem ganzen Tisch herum.
Nun ist Philipp ganz versteckt,
und der Tisch ist abgedeckt.
Was der Vater essen wollt',
unten auf der Erde rollt.
Suppe, Brot und alle Bissen,
alles ist herabgerissen.
Suppenschüssel ist entzwei,
und die Eltern stehn dabei.
Beide sind gar zornig sehr,
haben nichts zu essen mehr.
Die Geschichte vom Hans Guck-in-die-Luft
'Wenn der Hans zur Schule ging,
stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
schaut er aufwärts allenthalben.
Vor die eignen Füße dicht,
ja, da sah der Bursche nicht,
also daß ein jeder ruft:
"Seht den Hans Guck-in-die-Luft!"
Kam ein Hund daher gerannt;
Hänslein blickte unverwandt
in die Luft.
Niemand ruft:
"Hans! gib acht, der Hund ist nah!"
Was geschah?
Bauz! perdauz! — da liegen zwei,
Hund und Hänschen nebenbei.
Einst ging er an Ufers Rand
mit der Mappe in der Hand.
Nach dem blauen Himmel hoch
sah er, wo die Schwalbe flog,
also daß er kerzengrad
immer mehr zum Flusse trat.
Und die Fischlein in der Reih'
sind erstaunt sehr, alle drei.
Noch ein Schritt! und plumps! der Hans
stürzt hinab kopfüber ganz! —
Die drei Fischlein sehr erschreckt,
haben sich sogleich versteckt.
Doch zum Glück da kommen zwei
Männer aus der Näh herbei,
und die haben ihn mit Stangen
aus dem Wasser aufgefangen.
Seht! nun steht er triefend naß!
Ei, das ist ein schlechter Spaß!
Wasser läuft dem armen Wicht
aus den Haaren ins Gesicht,
aus den Kleidern, von den Armen,
und es friert ihn zum Erbarmen.
Doch die Fischlein alle drei,
schwimmen hurtig gleich herbei;
strecken's Köpflein aus der Flut,
lachen, daß man's hören tut,
lachen fort noch lange Zeit.
Und die Mappe schwimmt schon weit.
Wenn der Regen niederbraust,
wenn der Sturm das Feld durchsaust,
bleiben Mädchen oder Buben
hübsch daheim in ihren Stuben.
Robert aber dachte: Nein!
das muß draußen herrlich sein!
Und im Felde patschet er
mit dem Regenschirm umher.
Hui, wie pfeift der Sturm und keucht,
daß der Baum sich niederbeugt!
Seht! den Schirm erfaßt der Wind,
und der Robert fliegt geschwind
durch die Luft so hoch, so weit.
Niemand hört ihn, wenn er schreit.
An die Wolken stößt er schon,
und der Hut fliegt auch davon.
Schirm und Robert fliegen dort
durch die Wolken immerfort.
Und der Hut fliegt weit voran,
stößt zuletzt am Himmel an.
Wo der Wind sie hingetragen,
ja, das weiß kein Mensch zu sagen.
Ueber 100 Jahre sind es her. . .
Zum heiligen Christfest 1844 wurde dem 34jährigen Karl Hoffmann in Frankfurt
am Main ein eigenartiges Bilderbuch unter den Weihnachtsbaum gelegt. Es entstammte
keinem Buchladen; die geschickte Vaterhand hatte es selbst für den Erstgeborenen
gezeichnet, gemalt und mit originellen Versen ausgestattet. Dieser Vater -Dr. Heinrich
Hoffmann mit Namen und Arzt von Beruf- war ein Mann, der das Leben kannte und
die Kinder liebte. Denn was er in diesem Büchlein niederlegte, ist so wirklichkeitsnah,
so erfüllt von lebendigen Gemütswerten, ist so bilderreich, farbenprächtig und kindertümlich,
daß es sofort das Lieblings-Buch aller wurde. Die dem kindlichen Wesen
abgelauschten Bilder-Geschichten sind ohne schriftstellerische oder gar moralisierende
Absicht und ohne sogenannten literarischen Plan entstanden. Sagte sich doch der Verfasser
weise genug: "Das Kind will anschauen. Das Kind lernt einfach nur durch das
Auge. Und nur das, was es sieht, begreift es." Diese grundlegende Erkenntnis verhalf
dem Büchlein, das die Kinder selbst "Struwwelpeter" tauften, zu einem Welt-Erfolg.
Zwar mußte Hoffmann direkt gedrängt werden, das Buch drucken zu lassen. Auf
Weihnachten 1845 kam es in einer Auflage von 1500 Exemplaren heraus. Sie waren im
Nu verkauft. Als Dr. Heinrich Hoffmann 1894 hochbetagt starb, hatte sein Buch bereits
die 50. Auflage erreicht. Heute ist der "Struwwelpeter" zu Millionen verbreitet. Jung
und alt, arm und reich kennen ihn; er ist zum bekanntesten Kinderbuch der Welt
geworden.
Im Jahre 19« konnte der "Struwwelpeter" seinen ioo. Geburtstag feiern. Die Kriegswirren
ließen das Jubiläum fast unbeachtet vorüber gehen. Leider mußten sogar viele
Kinder und Eltern des deutschen Sprachgebietes auf ihr viel geliebtes Erstlingsbuch
verzichten, weil keine Nachdrucke mehr erscheinen konnten. In dieser ungewöhnlichen
Situation entschloß ich mich zur Drucklegung der ersten vollfarbigen Schweizer-Ausgabe.
Dabei war es mein Bestreben, der Ur-Fassung wieder etwas näher zu kommen
und den "Struwwelpeter" von jenem Ballast zu befreien, der ihm im Verlauf von
ioo Jahren in guten Treuen aufgebürdet wurde. Ich bin mir bewußt, daß sich auch die
vorliegende zeichnerische Neubearbeitung gewisse kleinere Freiheiten erlaubte, bedingt
durch den inzwischen eingetretenen Wandel in der Darstellung. Als Ganzes gibt sie
aber das Frankfurter Original getreuer und gepflegter wieder als die meisten früheren
Ausgaben. So möchte diese Jubiläums-Ausgabe den alten "Struwwelpeter" mit aufgefrischter
Lebenskraft ins zweite Jahrhundert hineingeleiten, auf daß er und seine
Kumpanen - nach Wunsch ihres Schöpfers - "noch eine gute Zeit zu leben fortzufahren
vermögen".
J. K. Schiele.
Diese zeichnerische Neu-Bearbeitg und des "Struwwelpeter ist urheberrechtlich geschützt.
Herausgeber: J. K. Schiele, Zürich. - 3. Auflage 1947